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Universität

Wege – Spuren – Schicksale: Mit Vergangenheit in die Zukunft

Aus VETMED 01/2019 - Über jüdische Studierende und AbsolventInnen der Wiener Tierärztlichen Hochschule – seit 1975 Veterinärmedizinische Universität Wien genannt – war bislang wenig bekannt. Ein neues Buch holt diese Menschen und ihre Geschichten nun aus der Vergessenheit. Und stärkt damit das historische Bewusstsein an der Vetmeduni Vienna.

Wilhelm Marbach studiert fleißig. Überfleißig sogar, im Sommersemester 1938. Der blonde, junge Mann legt mehr Prüfungen ab als je zuvor. Er will sein Studium abschließen, so schnell wie möglich. Denn Wilhelm Marbach ist Jude. Der einzige der im Frühjahr 1938 noch an der Wiener Tierärztlichen Hochschule inskribiert ist.

Seitenscheitel, ernster Blick, klare Gesichtszüge – so ist der Wiener auf einem Foto zu sehen, das ihn als 19-jährigen Studienanfänger der Veterinärmedizin zeigt. Als die Nazis in Österreich an die Macht kommen, ist er knapp 23 Jahre alt. „Anfangs hatte er noch die Hoffnung, dass er zu Ende studieren kann“, erzählt Historikerin Lisa Rettl, „aber die NS-Gesetzgebung hat sich rasch verändert.“ Im Jahr 1914/15 betrug der Anteil jüdischer Studierender an der heutigen Vetmeduni Vienna noch 5,7 Prozent. Nur noch 0,3 Prozent waren im Sommersemester 1938 inskribiert. Im November 1938 wird Wilhelm Marbach als letzter jüdischer Studierender von der Universität ausgeschlossen.

„Jüdische Studierende und Absolventen der Wiener Tierärztlichen Hochschule 1930 – 1947: Wege – Spuren – Schicksale“, unter diesem Titel liegt ein Teil der universitären NS-Vergangenheit seit kurzem in Buchform vor. In vierjähriger Forschungsarbeit hat sich ein dreiköpfiges Team rund um die Zeithistorikerin Lisa Rettl der Aufarbeitung gewidmet, initiiert vom Rektorat aus Anlass des 250-Jahre- Jubiläums der Vetmeduni Vienna 2015. Im vergangenen November erfolgte die Buchpräsentation. „Je mehr wir über die Geschichte wissen und je besser wir die Geschehnisse an der Veterinärmedizinischen Universität Wien kennen, desto besser können wir ihrer Vergangenheit gedenken und die Gegenwart für eine bessere Zukunft gestalten“, sagt Petra Winter, Rektorin der Vetmeduni Vienna. Ursprünglich angestoßen hatte das Buchprojekt ihre Vorgängerin, Sonja Hammerschmid. Finanziert wurde es durch den Wissenschaftsfonds FWF. „Wir wollen das historische Bewusstsein an unserer Universität schärfen und fördern“, erklärt Rektorin Petra Winter.

Viel mehr Archivmaterial als erwartet

„Es gibt fast keine Dokumente mehr aus der NS-Zeit.“ Mit dieser Annahme startete das Team in das Projekt. Umso größer war die Überraschung, als man sogar sehr viel in den Archiven der Vetmeduni Vienna entdeckte, erzählt Lisa Rettl: „Die Rektoratsakten sind fast vollständig erhalten, was uns viel über die Hochschulgeschichte im Allgemeinen erzählt.“ Außerdem war die sogenannte „Studentennationale“ eine wichtige Quelle, ein Verzeichnis, das die Studierenden damals jedes Semester bei ihrer Inskription ausfüllen mussten.

Das kürzlich erschienene Buch holt sie aus der Vergessenheit: die jüdischen Studierenden der Wiener Tierärztlichen Hochschule und ihre Schicksale. Name, Staatsangehörigkeit, Religion – schlichte Personendaten dienten den Forschenden als Ausgangspunkt, um Antworten auf Fragen zu finden, die bisher niemand gestellt hatte: „Wer waren die Menschen hinter diesen Namen? Was geschah im Nationalsozialismus mit ihnen? Haben sie überlebt und wenn ja, wie?“, so Rektorin Petra Winter. „Indem wir die Schicksale unserer ehemaligen jüdischen Studierenden dokumentieren, schließen wir eine Lücke der Erinnerung.“ Der letzte jüdische Studierende des Jahres 1938, Wilhelm Marbach, hat überlebt. Nach seinem erzwungenen Studienende flieht er 1939 nach Shanghai, arbeitet im chinesischen Bürgerkrieg als Militärtierarzt, muss schließlich erneut fliehen und erreicht 1950 Australien. Im Alter von 36 Jahren inskribiert er in Sydney erneut Veterinärmedizin und kann 1954 sein Studium abschließen. Zwanzig Jahre, nachdem er es in Wien begonnen hat.

Insgesamt 42 Studierende finden sich mit ihren Biografien im vorliegenden Werk. Ausgangspunkt für die historische Forschung war stets das Archiv der Vetmeduni Vienna. „Dort haben wir den Bestand systematisch gesichtet, uns dann weitergehantelt und viele, viele Puzzleteile aus allen möglichen Archiven zusammengetragen“, erzählt Lisa Rettl. Zu Wilhelm Marbach fand man etwa Akten im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, im Nachlass einer Wiener Rechtsanwaltskanzlei: „Dorthin hat Wilhelm Marbach aus Australien Dokumente geschickt, seinen Heimatschein und ein Maturazeugnis.“ Auch in Rumänien, Kroatien und Polen recherchierte das Forschungsteam: „Viele Studierende der Wiener Tierärztlichen Hochschule kamen aus den ehemaligen Kronländern der Habsburgermonarchie.“

Verfolgung am Unigelände

Wie aber kann man sich die Situation jüdischer Studierender an der Wiener Tierärztlichen Hochschule zu Zeiten des Nationalsozialismus genau vorstellen? Gab es, zusätzlich zu politischen Schikanen, direkte Verfolgung durch die und an der Universität? Fest steht, dass jüdische Studierende auch körperlich attackiert wurden, teils so sehr, dass sie den Campus nur unter Polizeischutz verlassen konnten. Fest steht, dass der nationalsozialistische Studentenbund an der Hochschule ab 1931 die absolute Mehrheit hatte. „Auch die Professoren und Assistenten waren in einem starken Maß schon vor 1938 nazifiziert, und jüdisches Personal wurde erst gar nicht beschäftigt“, so Lisa Rettl. „Das lässt den Schluss zu, dass der Antisemitismus – auch analog dazu, was wir von anderen österreichischen Universitäten wissen – schon lange vor 1938 hoch war.“

Viele der jüdischen Studierenden erlebten Verfolgung, manche Flucht und Deportation. Einige Lebensgeschichten konnten die HistorikerInnen detailliert nachverfolgen, bei anderen verliert sich die Spur. Mit dem vorliegenden Buch soll all diesen Menschen ein Denkmal gesetzt werden: „Die Vetmeduni Vienna ist ein Ort des Lernens“, sagt Rektorin Petra Winter, das gilt auch für die Erinnerungskultur.“ Historisches Bewusstsein schaffen und sichtbar machen, darum soll es am Campus auch in Zukunft verstärkt gehen: Mitte 2019 erscheint ein Folgebuch von Lisa Rettl unter dem Titel „Die Wiener Tierärztliche Hochschule und der Nationalsozialismus“ mit weiteren Ergebnissen aus dem Forschungsprojekt. In einem nächsten Schritt soll ein Wettbewerb zur Gestaltung und Errichtung eines Mahnmals am Unigelände organisiert werden. Rektorin Petra Winter: „Es soll ein bleibendes und symbolisches Erinnerungszeichen entstehen. Dieses soll das Schicksal der Verfolgten und Vertriebenen an unserer Universität sichtbar machen und uns an unsere Verantwortung erinnern.“

Buchpräsentation

Die Buchpräsentation fand im vergangenen November an der „Alten Vetmed“, der jetzigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, statt. Vier Jahre lang arbeitete Autorin Lisa Rettl am Projekt, unterstützt von ihren KollegInnen Claudia Kuretsidis-Haider und bis 2016 von Johannes Laimighofer. Finanziert wurde das Projekt aus Mitteln des FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung).

Info

Am 24. September 2019 um 14:00 Uhr wird im Festsaal der Vetmeduni Vienna das zweite Buch von Lisa Rettl aus dem Forschungsprojekt zur universitären NS-Geschichte präsentiert: „Die Wiener Tierärztliche Hochschule und der Nationalsozialismus“.

Jüdische Studierende

Wilhelm Marbach

* 1915 in Wien
† 1994 in Australien

Kindheit/Jugend: Wilhelm Marbach wuchs in gesicherten, wenn auch bescheidenen Verhältnissen im 2. Wiener Gemeindebezirk auf.
Familie: zweimal verheiratet
Studium an der Tierärztlichen Hochschule: Mit Sommersemester 1938 war er der einzige von drei jüdischen Studenten des Wintersemesters 1937/38, der noch an der Tierärztlichen Hochschule verblieben war. Zeitgleich mit Beginn der reichsweiten Novemberpogrome 1938 gegen die jüdische Bevölkerung des Deutschen Reiches erfolgte Marbachs endgültige Vertreibung von der Hochschule.
Leben im Exil: Er floh nach China und baute sich dort ein berufliches Leben als Militärarzt von Chiang Kai-shek auf. Nach der Machtübernahme Mao Zedongs war er erneut zur Flucht gezwungen und erreichte 1950 Australien, wo er sein Studium der Veterinärmedizin abschloss und danach im Staatsdienst, im Department of Agriculture, arbeitete.

Hermine Allgayer

* 1917 in Wien
† 1952 in Wien (Suizid)

Religion: römisch-katholisch; im Naziregime galt sie als „Mischling 2. Grades“.
Kindheit/Jugend: Ihre Mutter verstarb bei der Geburt.
Studium an der Tierärztlichen Hochschule: Sie inskribierte 1937 und engagierte sich im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen (ANSt), wo ihr als „Mischling 2. Grades“ eine ordentliche Mitgliedschaft aber verwehrt blieb. Ob ihre Aktivitäten in der ANSt ihrer tatsächlichen politischen Orientierung entsprachen oder eher eine Schutzstrategie vor dem Hintergrund eines enormen Anpassungsdruckes bedeuteten, bleibt offen. Mit 5. August 1939 entschied der Reichsminister des Inneren, Wilhelm Frick, dass „Mischlinge“ nicht mehr zur „Bestallung als Tierarzt oder eines öffentlichen Amtes im Gebiete des Deutschen Reiches“ berechtigt seien. Hermine Allgayer wurde vom Studium ausgeschlossen, konnte jedoch aufgrund des herrschenden Ärztemangels ihr Humanmedizinstudium abschließen.

Vilko Gostl

* 1911 in Kroatien
† 1942 in Kroatien im Konzentrationslager

Kindheit/Jugend: Seine Eltern waren Kaufleute mit einem kleinen Lebensmittelgeschäft.
Studium an der Tierärztlichen Hochschule: Er begann sein veterinärmedizinisches Studium 1930 in Zagreb und setzte es nach Unterbrechungen ab 1937 in Wien fort. Im März 1938 ging er von der Tierärztlichen Hochschule Wien ab, die Gründe sind nicht eindeutig fassbar. Er selbst nannte in einem Schreiben an das Rektorat „materielle Gründe“, die es ihm nicht erlaubt hätten, sein Studium zu beenden, allerdings deuten die im Rektorat verbliebenen Dokumente auf eine überhastete Flucht im Zuge der politischen Ereignisse rund um den „Anschluss“ hin.
Verfolgung und Deportation: Vilko Gostl kehrte nach Zagreb zurück und wurde im Juli 1942 gemeinsam mit seiner Mutter in das Konzentrationslager Jasenovac deportiert und von dort in das Frauen- und Jugendkonzentrationslager Stara Gradiška überstellt, wo er am 15. September 1942 starb.

Sigmund Fleischer

* 1911 in der Bukowina
† unbekannt

Kindheit/Jugend: Sein Vater war von Beruf Fleischhauer in Czernowitz. Sigmund Fleischer besuchte dort ein Privatgymnasium.
Studium an der Tierärztlichen Hochschule: Sigmund Fleischer begann sein Studium an der Brünner Tierärztlichen Hochschule, wechselte nach dem zweiten Semester nach Wien, wo er als Staatsbürger des Königreiches Rumänien immatrikulierte und sein Studium 1936 abschloss.
Nach 1936: Er kehrte zurück nach Czernowitz, das nach wie vor ein Zentrum jüdischen Lebens war. Den vorliegenden Quellen nach wurde er im Juli 1942 nach Transnistrien deportiert. Die Zahl der dort ums Leben gekommenen Opfer bewegt sich zwischen 250.000 und 400.000 Menschen. Von Sigmund Fleischer verliert sich mit seiner Deportation die Spur. Es gibt keine Hinweise, dass er zu den Überlebenden gehörte.