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Universität

Aus der Praxis: Wenn Katzen hoch hinaus wollen

Kater Carlos schlich sich im Trubel einer beginnenden Wohnungsübersiedlung auf den Balkon und stürzte in die Tiefe. Seine Besitzerin brachte ihn umgehend in die Notambulanz der Universitätsklinik für Kleintiere und begleitete den damals vierjährigen Kater liebevoll Schritt für Schritt bei seiner Genesung.

Foto: Thomas Suchanek/Vetmeduni

Es heißt, dass Katzen sprichwörtlich immer auf den Pfoten landen – doch ein Balanceakt in schwindelnder Höhe kann in mehrstöckigen Gebäuden schnell zum Verhängnis werden. Ein geöffnetes Fenster, eine angelehnte Terrassentür oder eine offenstehende Wohnungstür reichen aus und die Samtpfoten begeben sich auf Erkundungstour. Stürzt ein Tier ab, nimmt mit der Fallhöhe die Fallgeschwindigkeit zu. Je nach Gewicht der Katze kann diese ein Maximum von 100 km/h erreichen. Insbesondere in der Stadt endet der Sturz meist auf hartem Boden und die Tiere ziehen sich schwere Verletzungen zu.

High-Rise-Syndrom nennen Tiermediziner:innen die Folgen eines solchen Sturzes. Das Perfide daran: Wie schwer die Verletzungen sind, kann meist nur schwer auf den ersten Blick festgestellt werden. Zusätzlich verstecken gerade Katzen Schmerzen sehr geschickt. Wird ein Tier mit einem Polytrauma, also mehreren, mitunter sogar lebensbedrohlichen Verletzungen, eingeliefert, gilt es, zunächst die Vitalwerte zu checken und das Tier zu stabilisieren. „Puls, Atemfrequenz, Körpertemperatur und die sogenannte Kapilläre Füllungszeit, ein Test an den Schleimhäuten“, erklärt Britta Vidoni, tierärztliche Leiterin der Universitätsklinik für Kleintiere. „Ist das Tier stabil, können weitere Untersuchungen folgen.“ Eine Vorgangsweise, die bereits Studierende der Tiermedizin verinnerlichen. 

Stürze mit Folgen

Der vierjährige Maine-Coon-Kater Carlos hatte sich zwischen den Umzugskisten unbemerkt auf die Terrasse eines mehrstöckigen Hauses geschlichen. Seine Besitzerin wurde durch das Geräusch des stürzenden Katers alarmiert. Sie eilte dem Tier zu Hilfe und brachte ihn umgehend in die Uniklinik. Carlos‘ klinische Untersuchung zeigte ruhiges und aufmerksames Allgemeinverhalten, sein Abdomen war durchtastbar und nicht schmerzhaft, die Schleimhäute blassrosa, die Herztöne rein. Jedoch hatte er eine Risswunde der Zunge, blutete aus der Maulhöhle, der Kiefer schloss nicht richtig. Am rechten Unterschenkel war eine kleine Hautzusammenhangstrennung, mit einem begleitenden Hämatom, einer Weichteilschwellung und eine Instabilität des Knochens feststellbar – Verdacht auf Tibiafraktur, Schienbeinbruch, schlussfolgerte das Team rund um Britta Vidoni.

„Wir gaben Carlos einen sogenannten Flow-by-Sauerstoff, setzten einen Venenkatheter, nahmen Blut ab und behandelten ihn mit Methadon zur Schmerzstillung“, berichtet Vidoni. Als sich der Kater ausreichend stabil zeigte, folgte eine fokussierte Ultraschalluntersuchung der Brust- und Bauchhöhle. Zur Übersicht fertigten die Tiermediziner:innen zudem ein Thoraxröntgen an.

„Carlos hatte Glück im Unglück“, erklärt Vidoni, während sie auf das Röntgenbild deutet. Denn: „schwere Verletzungen der Brusthöhle wie Pneumothorax, Lungenkontusion, Hämothorax oder Zwerchfellruptur konnten ausgeschlossen werden.“ Diese kommen bei 30 bis 90 Prozent der Katzen nach einem Fenstersturz vor. Auch eine Verlaufskontrolle sei wichtig, da einige Verletzungen, wie etwa Lungenkontusion, erst später radiologisch sichtbar werde. Auch eine Bauchspeicheldrüßeruptur oder die Ruptur der Harnblase seien typische Verletzungen und werden erst mit der Zeit klinisch evident, so Vidoni. Die Fachtierärztin für Kleintierchirurgie hat in ihrer Laufbahn bereits viele Katzen behandelt, die wie Carlos in der Stadt aus großer Höhe gefallen waren. Die Heilungschancen stehen dabei leider nicht immer gut – die Gefahr eines Schocks oder Herz-Kreislaufversagens sei groß.

Komplizierte Frakturen

Bei Carlos zeigten schließlich Röntgenbilder der Hinterbeine einen komplizierten Bruch des rechten Unterschenkels. Ein Cone-Beam-CT offenbahrte zudem eine Fraktur im Bereich des Unterkiefers. „Wichtig ist in so einem Fall, die Futteraufnahme trotz Verletzung zu gewährleisten“, setzt Vidoni hinzu. Bei Carlos geschah dies über eine Ernährungssonde. Mittels einer Compositbrücke wurde der Kiefer indirekt für einen Monat geschient, da das Knochenfragment für den Einsatz einer Platte zu klein war.

Die Verletzung am Bein versorgten die Tiermediziner:innen zunächst mit einem Schienenverband. Erst als der Kater stabil genug für eine Narkose war, fixierte ein Team um Britta Vidoni bei einem chirurgischen Eingriff die Knochen durch eine winkelstabile Platte (Locking Compression Plate, LCP) und einen intramedulären Pin. Assistiert wurde ihr bei der zweieinhalbstündigen OP von Jakub Vodnárek, der seine Residency – eine fachtierärztliche Spezialisierung – im Bereich der Kleintierchirurgie absolviert. In den Wochen und Monaten danach folgten zahlreiche Kontrolluntersuchungen und -röntgen, um die Heilung der Knochen zu beobachten. „Es besteht immer die Gefahr einer Entzündung oder eines Knochenabbaus“, erklärt Vidoni die engmaschigen Kontrollen.

Langwieriger Heilungsverlauf

Heute, ein Jahr nach dem Unfall, ist Carlos zu einer Kontrolluntersuchung bei Britta Vidoni und Jakub Vodnárek. Die ersten Monate nach dem Sturz beschreibt Carlos‘ Besitzerin rückblickend als sehr fordernd, für den Kater – und sich selbst. Als Krankenschwester hatte sie medizinische Vorkenntnisse, etwa um die Versorgung via Ernährungssonde aufrechtzuerhalten oder den Verband regelmäßig zu wechseln. Inzwischen sei er wieder „ganz der Alte“, läuft und springt, frisst mit Appetit. „Kaum vorstellbar, dass der Sturz erst ein Jahr her ist“, setzt seine Besitzerin hinzu, während sie Carlos zur Beruhigung streichelt. Vidoni und Vodnárek checken den Kater behutsam durch, stellen Fragen zum Verhalten und lassen ein Kontrollröntgen von der Plattenversorgung im Bein anfertigen.

Leider haben nicht alle Katzen so viel Glück wie Carlos und eine Absicherung von Freiflächen sei in der Stadt die beste Medizin, meinen die Ärzte. „Mit Beginn der warmen Jahreszeit sehen wir leider viel zu regelmäßig Patienten mit verheerenden Verletzungen, die – genau wie damals Carlos und zahlreiche Katzen vor ihm – aus großer Höhe gestürzt sind“, sagt Jakub Vodnárek. „Es ist eine für Stadtkatzen häufige Art zu verunfallen“, fügt Britta Vidoni hinzu.

Die Untersuchungsergebnisse bei Kater Carlos bestätigen den Eindruck der Besitzerin, dass seine Lebensqualität soweit wieder hergestellt ist, das Röntgen zeigt keine Auffälligkeiten. Carlos darf also wieder nach Hause. Und der Garten in der neuen Wohnung? – Ist natürlich katzensicher.



Achtung: Fenstersturz

Rund 80 Katzen werden jährlich nach einem Fenstersturz an der Vetmeduni medizinisch versorgt. Katzenhalter:innen sind verpflichtet, Fenster und Balkone, zu denen die Katze Zugang hat und bei denen Absturzgefahr besteht, mit einem Gitter oder Netz zu sichern. Auch bei gekippten Fenstern ist darauf zu achten, dass die Katze nicht durchklettern und sich verletzen kann.
 


Katzen, die an Wolken kratzen

Katzen machen im freien Fall eine sogenannte gyroskopische Drehung (siehe Abb.). Ihr sensibles Vestibularorgan bewirkt, dass alle vier Pfoten schnell nach unten zeigen, unabhängig von der Ausrichtung zu Beginn des Falls. Erst dreht sich der Vorderkörper (1-2), danach der Hinterleib (3). Gleichzeitig steuert der Schwanz gegen und stabilisiert die richtige Position (4). Die Aufprallkraft wird im Anschluss auf alle vier Gliedmaßen verteilt. Dies wird als Stellreflex bezeichnet. Wie kommt es aber zu schwerwiegenden Verletzungen bei Stürzen aus mehrstöckigen Gebäuden?

Ab einer Fallhöhe von 30 Metern – das entspricht etwa sechs bis sieben Stockwerken – erreichen Katzen eine Geschwindigkeit von 80 bis 100 km/h. Dadurch wirken beim Aufprall große Kräfte auf die Tiere. Auch die Härte des Bodens hat Einfluss auf die Schwere der Verletzung. Warum es aber bei Stürzen aus geringeren Höhen ebenfalls zu schweren Verletzungen kommt, untersuchten zwei Tierärzte einer New Yorker Tierklinik bereits in den 1980er-Jahren. Anhand einer Fallsammlung von 132 verunfallten Katzen stellten sie fest, dass die Katzen erst ab einer bestimmten Höhe den Stellreflex einsetzen können, um den Sturz abzufedern.